Einführung
von Dr. Katerina Krtilova
Ein Pinselstrich ist noch kein Gemälde — er oszilliert zwischen Absicht und Kontingenz, Bedeutung und Bedeutungslosigkeit. Er bewegt sich an der Grenze von Bedeutung, markiert zunächst nur die „ikonische Differenz“ (Gottfried Böhm), die es ermöglicht, überhaupt etwas auf einer Fläche zu sehen, nicht nur die Oberfläche eines Gegenstandes.
Vilém Flusser folgend, lässt der einzelne Pinselstrich die Geste der Malerei analysieren. Als Geste kann die Malerei nicht von „außen“ verstanden werden, im Sinne einer wissenschaftlichen — biologischen, physiologischen oder soziologischen — Erklärung des Prozesses, denn die Betrachter:innen sehen die Geste eines Pinselstrichs und nicht nur eine zufällige Figur, weil sie sich selbst darin wiedererkennen, und das Bild als die Spur einer Körperbewegung sehen, die sie nachvollziehen können. Flusser lehnt auch die Vorstellung der „inneren“ Absicht, Idee oder des Geistes des Malers ab, die im Bild ausgedrückt werden, losgelöst von der „Außenseite“ der Geste, den Bewegungen des Körpers, des Pinsels oder der Farbe auf der Leinwand usw., weil diese Vorstellung auf den Vergleich zwischen der angenommenen Idee oder Absicht und dem fertigen Bild hinausläuft, eine Korrelation zwischen dem Innen und Außen, dem Geiste und dem Körper voraussetzend — ohne den Vollzug des Malens in Betracht zu ziehen. Maler:in und Pinsel sind nur Abstraktionen, betont Flusser, was wirklich ist, ist die konkrete Form der Geste.
Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass die Malerin den Pinsel als Instrument benutzt, um geistige Inhalte auf der Leinwand auszudrücken, betont Liat Grayver in ihrer Analyse der Geste des Malens das Zusammenwirken verschiedener Körper — der Hand der Malerin, ihrer Arme oder Füße, des Pinsels, der Farbe, der Leinwand — und Rolle der Techniken des Malens, der Arbeit mit der Leinwand (oder einer anderen Fläche/Oberfläche), der Farbe, dem Rahmen usw., die die Geste des Malens gleichzeitig einschränken und Möglichkeiten der Variation und Überschreitung der gegebenen Bedingungen bieten. Die Konfrontation mit einem Roboter-Arm, der vorprogrammierte Pinselstriche ausführt, konfrontiert die Malerin und die Betrachter:innen mit Werkzeugen und Techniken, die nicht Teil der „inneren“ Bewegungen des Künstlers sind, ja bedingt das, was überhaupt gemalt, vorgestellt oder gesehen werden kann. Pinsel, Farbe, Leinwand und lineare Perspektive sind Elemente, die trotz der Absichten der Malerin nicht vollständig kontrollierbar sind, sondern lassen sie vielmehr etwas tun, was sie sich womöglich nie hätte vorstellen können, lassen unerwartete und tatsächlich unvorhergesehene Ergebnisse hervorbringen.
Die einzigartige Zusammenarbeit von Grayver und dem e-David-Team bei der Entwicklung computergestützter und roboterbasierter Werkzeuge mit traditionellen, von der Kalligrafie inspirierten Maltechniken ermöglicht eine Reflexion über die Geste der Malerei im Zeitalter digitaler Technologien. Gegenüber der Idee der Nachahmung menschlichen Verhaltens durch die Maschine, und die Faszination für „künstliche Kreativität“ — also die Simulation menschlicher künstlerischer Praxis — wird in dieser Arbeit die technische Analyse der malerischen Geste in Frage gestellt. Indem die selbstreflexive Geste des Malers mit der algorithmischen Logik des Computerprogramms konfrontiert wird, offenbart die Geste ihre unberechenbare Dimension: die individuelle, einzigartige Bewegung einer Hand, die eine einzigartige materielle Spur erzeugt, die nicht reproduziert, sondern nur in neuen Pinselstrichen wiederholt werden kann.
Gleichzeitig werden die Phasen oder Parameter, in die Grayver und das e-David-Team ihre Gesten zerlegen, nicht von „außen“ an sie herangetragen, sondern sind ebenso integrale Bestandteile des Pinselstrichs (der Anordnung Hand-Pinsel-Farbe-Papier) wie des digitalen Werkzeugs (der Anordnung Pinsel-Roboter-Programm-Papier). Dies ermöglicht ihr, die Geste der Malerei zu erforschen und zu bereichern, indem sie Technik und Einbildungskraft, Absicht und Zufall, Passivität und Aktivität, die Möglichkeiten und Beschränkungen des Werkzeugs, des Materials und des Körpers — oder des Programms — miteinander verbindet und Experimente und Fehler einschließt, die neue Möglichkeiten schaffen. Eine unendliche mechanische Variation und gleichzeitig eine einmalige, nicht wiederholbare Erfahrung.