Kulturzentrum 

am Münster 

(Richental-Saal; Wessenbergstraße 43,
78462 Konstanz)

InComputable
Imagery: 

Den Pinselstrich
neu erfinden

Liat Grayver (Berlin) und
e-David Painting Robot
(Uni Konstanz)

Nov 5 – 

Dez 5, 2021 

(Di – Fr 10 –18 h; Sa + So 10 –17 h)

Einführung
von Dr. Katerina Krtilova


Ein Pinselstrich ist noch kein Gemälde — er oszilliert zwischen Absicht und Kontingenz, Bedeutung und Bedeutungslosigkeit. Er bewegt sich an der Grenze von Bedeutung, markiert zunächst nur die „ikonische Differenz“ (Gottfried Böhm), die es ermöglicht, überhaupt etwas auf einer Fläche zu sehen, nicht nur die Oberfläche eines Gegenstandes.

Vilém Flusser folgend, lässt der einzelne Pinselstrich die Geste der Malerei analysieren. Als Geste kann die Malerei nicht von „außen“ verstanden werden, im Sinne einer wissenschaftlichen — biologischen, physiologischen oder soziologischen — Erklärung des Prozesses, denn die Betrachter:innen sehen die Geste eines Pinselstrichs und nicht nur eine zufällige Figur, weil sie sich selbst darin wiedererkennen, und das Bild als die Spur einer Körperbewegung sehen, die sie nachvollziehen können. Flusser lehnt auch die Vorstellung der „inneren“ Absicht, Idee oder des Geistes des Malers ab, die im Bild ausgedrückt werden, losgelöst von der „Außenseite“ der Geste, den Bewegungen des Körpers, des Pinsels oder der Farbe auf der Leinwand usw., weil diese Vorstellung auf den Vergleich zwischen der angenommenen Idee oder Absicht und dem fertigen Bild hinausläuft, eine Korrelation zwischen dem Innen und Außen, dem Geiste und dem Körper voraussetzend — ohne den Vollzug des Malens in Betracht zu ziehen. Maler:in und Pinsel sind nur Abstraktionen, betont Flusser, was wirklich ist, ist die konkrete Form der Geste.

Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass die Malerin den Pinsel als Instrument benutzt, um geistige Inhalte auf der Leinwand auszudrücken, betont Liat Grayver in ihrer Analyse der Geste des Malens das Zusammenwirken verschiedener Körper — der Hand der Malerin, ihrer Arme oder Füße, des Pinsels, der Farbe, der Leinwand — und Rolle der Techniken des Malens, der Arbeit mit der Leinwand (oder einer anderen Fläche/Oberfläche), der Farbe, dem Rahmen usw., die die Geste des Malens gleichzeitig einschränken und Möglichkeiten der Variation und Überschreitung der gegebenen Bedingungen bieten. Die Konfrontation mit einem Roboter-Arm, der vorprogrammierte Pinselstriche ausführt, konfrontiert die Malerin und die Betrachter:innen mit Werkzeugen und Techniken, die nicht Teil der „inneren“ Bewegungen des Künstlers sind, ja bedingt das, was überhaupt gemalt, vorgestellt oder gesehen werden kann. Pinsel, Farbe, Leinwand und lineare Perspektive sind Elemente, die trotz der Absichten der Malerin nicht vollständig kontrollierbar sind, sondern lassen sie vielmehr etwas tun, was sie sich womöglich nie hätte vorstellen können, lassen unerwartete und tatsächlich unvorhergesehene Ergebnisse hervorbringen.

Die einzigartige Zusammenarbeit von Grayver und dem e-David-Team bei der Entwicklung computergestützter und roboterbasierter Werkzeuge mit traditionellen, von der Kalligrafie inspirierten Maltechniken ermöglicht eine Reflexion über die Geste der Malerei im Zeitalter digitaler Technologien. Gegenüber der Idee der Nachahmung menschlichen Verhaltens durch die Maschine, und die Faszination für „künstliche Kreativität“ — also die Simulation menschlicher künstlerischer Praxis — wird in dieser Arbeit die technische Analyse der malerischen Geste in Frage gestellt. Indem die selbstreflexive Geste des Malers mit der algorithmischen Logik des Computerprogramms konfrontiert wird, offenbart die Geste ihre unberechenbare Dimension: die individuelle, einzigartige Bewegung einer Hand, die eine einzigartige materielle Spur erzeugt, die nicht reproduziert, sondern nur in neuen Pinselstrichen wiederholt werden kann.

Gleichzeitig werden die Phasen oder Parameter, in die Grayver und das e-David-Team ihre Gesten zerlegen, nicht von „außen“ an sie herangetragen, sondern sind ebenso integrale Bestandteile des Pinselstrichs (der Anordnung Hand-Pinsel-Farbe-Papier) wie des digitalen Werkzeugs (der Anordnung Pinsel-Roboter-Programm-Papier). Dies ermöglicht ihr, die Geste der Malerei zu erforschen und zu bereichern, indem sie Technik und Einbildungskraft, Absicht und Zufall, Passivität und Aktivität, die Möglichkeiten und Beschränkungen des Werkzeugs, des Materials und des Körpers — oder des Programms — miteinander verbindet und Experimente und Fehler einschließt, die neue Möglichkeiten schaffen. Eine unendliche mechanische Variation und gleichzeitig eine einmalige, nicht wiederholbare Erfahrung.

A Reverberation oft he Finite in the Infinite of Outer Perception and Inner Vista. Pigments, charcoal, spray paint and gesso on canvas, 200 × 150 cm.

Beschreibung der Arbeiten


Die Ausstellung initiiert einen komplexen Dialog zwischen einem sich entwickelnden determinierten Prozess, computergestützter Bildanalyse und organischer Malakte. Aus einer simulierten Welt gewonnene Daten werden in Materie verwandelt, bevor sie in einer kontinuierlichen Schleife von Aktion und Reaktion, von Beobachtung und Darstellung wieder in Daten übersetzt werden.

In den Raum sind acht roboter-kalligrafische Gemälde integriert, ie die Architektur des Gebäudes umstrukturieren. Die einzelnen Arbeiten auf Papier basieren auf einer Konstellation von computergenerierten Partikeln (Simulation of a World Overview) nach dem Newtonschen Gesetz der universellen Gravitation. In verschiedenen Größen skaliert, kann jede Arbeit nicht nur als einzelnes Werk, sondern auch als Teil einer modularen Installation betrachtet werden. Insbesondere die Fragilität des mit Tinte durchtränkten Reispapiers steht in scharfem Kontrast zu dem Industrieroboter, mit dem sie hergestellt wurden. Wie bei der japanischen Kalligraphie (auf die offensichtlich und ausdrücklich verwiesen wird) sind hier die Pinselführung und das Verhalten der Tinte beim Eindringen in die Oberfläche um ein Vielfaches wichtiger als die Wahrnehmung des Objekts selbst.

Ein tragbarer e-David-Malroboter erstellt im Laufe der Ausstellung live Gemälde. Der Ausgangszustand des ersten Gemäldes wird während der Vernissage als performativer Akt von der Künstlerin festgelegt, indem sie den Prozess mit einem einzigen Pinselstrich auf dem nackten, weißen Papier auslöst. Von diesem Moment an ist es e-David, der die folgenden Pinselstriche ausführt. Der visuelle Feedback-Mechanismus, der das Herzstück des Systems bildet, wird als Teil einer benutzerdefinierten Konfiguration genutzt, die ständig neue Daten erzeugt, um die kontinuierliche Aktivität des Roboters zu ermöglichen. Nach Abschluss jedes Pinselstrichs wird die Entwicklung des neuen Strichs durch das visuelle Feedback analysiert und das „Ziel“ entsprechend dem Zustand des sich entwickelnden Bildes neu eingestellt.

Dieser unendliche Prozess von einem Zustand zum nächsten setzt sich in einer Schleife über die Dauer der Ausstellung fort. Die sich ständig ändernde Lichtqualität im Raum — die Richtung des Sonnenlichts, der Wechsel zwischen natürlichem und künstlichen Licht, gefiltert durch die hängenden Gemälde oder direkt den Raum beleuchtend — ist einer der Faktoren, die sich auf die kontrollierten Rückkopplungsverfahren auswirken kann und erfordert vom Computer, den Zustand des Gemäldes zu jedem Zeitpunkt „richtig“ zu interpretieren. Durch diesen exponentiellen Variationsprozess entsteht allmählich eine komplexe visuelle Struktur, die durch die Besonderheiten der Interaktion von Computermechanismen und physischer Vorgänge einzigartig ist.

Zu den Autor:innen


Der e-David (Electronic Drawing Apparatus for Vivid Image Display) ist ein Pionierprojekt auf dem Gebiet der Malroboter und war eines der ersten, das ein visuelles Feedbacksystem verwendete. Er ist ein laufendes Projekt des Lehrstuhls für Computergrafik unter der Leitung von Prof. Oliver Deussen und wird derzeit von dem Doktoranden Marvin Gülzow entwickelt. Die Software für die Ausstellung wurde von dem Graffiti-Künstler Dr. Daniel Berio (Computer Science, Goldsmith University of London) und Emily Bihler (Universität Konstanz) entwickelt.

Liat Grayver ist eine in Berlin ansässige transdisziplinäre Malerin und Medienkünstlerin, die neue Zugänge zu einer der ursprünglichsten Formen der Kunst — der Malerei — im heutigen, technologisch bedingten Zeitalter erforscht.


Dr. Katerina Krtilova ist Medientheoretikerin und Medienphilosophin; sie forscht und lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste und koordiniert das Doktoratsprogramm Epistemologien ästhetischer Praktiken. 2021/2022 vertritt sie die Professur für Medienkulturwissenschaft an der Universität Bonn.

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